Es war ein Sonntag im Advent. Im Wohnzimmer duftete es nach Zimt. Mutter backte Plätzchen in der Küche. Vater saß auf dem Sofa, trank Tee und las ein Buch. Da ging im Stockwerk drüber die Tür auf und knallte wieder zu. Der kleine Michael stürmte die Treppe herunter und rief: „Papaaaa“. Er sprang seinem Vater auf den Schoß. „Papa, wo wohnt Gott?“, fragte Michael. „Wo wohnt wer?“, sagte der Vater, „was ist das denn für eine Frage? Warum willst du das wissen?“ „Heute Morgen waren wir in der Kirche. Und der Pfarrer dort hat die ganze Zeit von Gott geredet.“ „Ja, das hat er“, gab der Vater zu. Er atmete einmal tief durch, überlegte einen Moment, dann schmunzelte er und sagte: „Er wohnt im Himmel.“ Der kleine Michael schaute seinen Vater an und zog dabei die Augenbrauen etwas hoch. „Wo ist das?“, sagte er. „Na Du kannst Fragen stellen“, meinte der Vater. „Jedenfalls ist es nicht der Himmel, in dem wir abends die Sterne betrachten. Es ist ein anderer Himmel.“

Wo ist der Himmel?

„Aber wo ist dieser Himmel dann?“, brach es Michael heraus. Sein Vater kniff die Augen zusammen und fasste sich an die Schläfe. Nach kurzer Zeit sagte er: „Das weiß niemand so genau“. Michael schien damit nicht zufrieden zu sein. Er ging vom Schoß seines Vaters herunter und setzte sich neben ihn aufs Sofa. Nach einer Weile sagte er: „Wenn niemand weiß, wo der Himmel ist, woher weißt du, dass Gott dort wohnt?“ Michaels Vater überlegte. Wer hat meinem Sohn nur solche Fragen in den Kopf gesetzt? Woher soll ich denn eine Antwort darauf kennen? Auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen. Er nippte an seiner Tasse Tee. Dann drehte er seinen Kopf zur Seite und sagte: „Michael, ich weiß es nicht. Die Alten haben immer gesagt, dass er im Himmel wohnt. Aber ich weiß nicht, wo das ist.“ „Dann müssen wir die Antwort suchen“. Michael sprang vom Sofa und hetzte die Treppe hinauf. Wenige Minuten später kam er wieder herunter – fertig angezogen und bereit zu gehen. „Wo willst du hin?“, fragte sein Vater. „Zum Herrn Pfarrer. Der hat heute so viel von Gott erzählt. Der muss ja wissen, wo er wohnt.“

Besuch beim Pfarrer

Als Michael beim Pfarrer klingelte, öffnete dieser selbst die Tür. Es war noch ein junger Pfarrer, der erst seit kurzer Zeit im Dorf arbeitete. Sie gingen in die Stube und Michael stellte ihm seine Fragen. „Gott wohnt in deinem Namen“, gab ihm der junge Pfarrer zur Antwort. „In meinem Namen? Wie kann man denn in einem Namen wohnen?“, fragte Michael. „Ja, weißt du“, sagte der Pfarrer, „Gott wohnt sogar in vielen Namen. Er steckt da drin. Die alten Hebräer des Volkes Israel nannten ihn El und auch Jahwe. Und viele Namen in der Bibel erwähnen Gott. Die Namen bedeuteten etwas. Sie weisen auf das hin, was die Menschen mit ihm erlebt haben. Zum Beispiel: Gott-gibt-Kraft oder Gott-ist-gütig oder Gott-ist-mächtig. Diese hebräischen Namen der Bibel sind Vorbild für viele heutige Namen. Deshalb wohnt Gott in deinem Namen: Micha-el. Das heißt etwa Wer-ist-wie-Gott?“

„Boah“, staunte Michael. Er war ganz baff. „Gott steckt in den Namen. Kennst du noch mehr Namen, wo Gott drin steckt?“ „Ja, zum Beispiel steckt El auch in Gabriele. Das bedeutet ungefähr Meine-Macht-ist-Gott oder Macht Gottes. Oder das J von Jahwe steckt auch noch im Jo-hannes. Das heißt soviel wie Gott-ist-gnädig.“

Wohnt Gott im Namen?

Michael konnte es kaum glauben, dass Gott in so vielen Namen steckt. Dann platzte es aus ihm heraus: „Steckt Gott auch im Namen meiner Oma? Sie heißt Hel-ene?“ Der Pfarrer schmunzelte. „Du hast gut aufgepasst. Aber da steckt nicht das hebräische El drin. Helene kommt aus dem Griechischen und heißt die Strahlende, die Leuchtende. Aber das ist abgeleitet vom griechischen Sonnengott Helios. Also steckt tatsächlich etwas Göttliches in Helene.“

Michael schaute noch immer verblüfft. Er war viel klüger geworden, weil der Pfarrer so viel über Namen wusste. Aber wo genau Gott wohnt und wo der Himmel ist, darauf konnte der Pfarrer ihm auch keine Antwort geben. Michael suchte ja den echten Gott, nicht bloß seinen Namen. Der Pfarrer hätte Michael gern weitergeholfen, sagte er, aber er meinte, er sei noch zu jung. Er sei wie Michael auf der Suche nach dem Wohnort Gottes. Aber auch er habe ihn noch nicht gefunden. Die Alten, sagte der Pfarrer, die Alten, die wissen da häufig viel besser Bescheid. „Frag doch mal deine Großeltern.“

Gott in der Familie

„Wo Gott wohnt? Na, das kann ich Dir sagen“, sprach Opa, „Bei uns zuhause.“„Bei uns zuhause?“, dachte Michael, „boah, wenn ich das in meiner Klasse erzähle. Gott wohnt bei uns zuhause!!!“ Kurz darauf kam Michael wieder ins Grübeln. „Aber Opa, wo denn zuhause? Und in welchem Zimmer?“ „Nicht in einem Zimmer, mein Kleiner“, sagte Opa, „Gott wohnt in der Familie. Immer an Weihnachten, wenn die Familien zusammenkommen, dann will Gott auch dabei sein und bei ihnen wohnen. Und in unserer Familie wohnt er – meistens.“ „Das verstehe ich nicht“, sagte Michael. „Na, sieh mal, wenn Frieden in einer Familie ist, dann wohnt Gott bei ihr. Und an Weihnachten ist die Möglichkeit, dass er bei einer Familie wohnt, immer besonders groß. Aber leider auch die Möglichkeit für das Gegenteil.“

„Warum?“, fragte Michael. „Weil die Menschen im ganzen Jahr wenig Zeit füreinander haben. Jeder hat viel zu tun. Es gibt viel Arbeit und die Heranwachsenden müssen Prüfungen ablegen. Da fehlt oft die Zeit, sich mit der Familie zu beschäftigen. Und an Weihnachten steht die Zeit für einen Moment still. Keiner kann mehr wegrennen, sondern muss sich mit der Familie auseinandersetzen. Und wenn das gelingt, dann kann so mancher ganz leise Gott spüren. Dann wohnt er in der Familie.“ „Aber der Pfarrer meinte, Gott wohnt im Namen. Und Papa meinte, er wohnt im Himmel“, sagte Michael. „Ja, da hat er Recht“, sagte Opa, „aber es ist ein Himmel auf Erden.“ „Das sind so Erwachsenen-Worte“, seufzte Michael. „Davon verstehe ich nichts.“ „Frag doch mal Oma, wo Gott wohnt“, sagte Opa. „Sie vergisst zwar manches, aber die wichtigen Dinge behält sie sich.“

Oma muss es wissen

Michael ging zu Oma und dachte sich: „Ja genau, die Oma kann mir alles immer so erklären, dass ich verstehe.“ Er erzählte ihr die ganze Geschichte. Was der Pfarrer in der Kirche sagte, was Vater über den Himmel wusste und dass der Pfarrer ganz viel über die Namen wusste, in denen Gott sich versteckt. Aber dass er trotzdem nicht wisse, wo Gott wohnt. Und von Opa, der wusste, dass er in den Familien wohnt. Aber dass das alles so kompliziert sei und er es noch nicht begreifen könne.

Oma Helene hörte ihm lange aufmerksam zu. Als er alles erzählt hatte, hielt sie einen Moment inne. Sie erinnerte sich an ihre eigene Kindheit. Michael betrachtete sie. Ihr Blick sah aus, als wäre sie gar nicht mehr da. Nach einer Weile drehte sie ihren Kopf zur Seite und schaute ihrem Enkel in die Augen. Sie sagte: „Mein Michael, Gott wohnt in den Herzen der Menschen. Immer wenn ich dich sehe, blickt er mich an.“

© derRedner 12|2014

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